Ein Übergangsraum für die Selbsterprobung

 Psychotherapie als Horizont der Entwicklungsmöglichkeiten 

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ lautet der wohl bekannteste Ausspruch des Philosophen Theodor Adorno. Dieses Zitat macht nicht nur nachdenklich, sondern wirft Fragen auf, die uns in der einen oder anderen Form bereits begegnet sind: Gibt es ein „richtiges“ Leben? Wenn ja, wie sieht es aus? Authentisch? Eigenverantwortlich und selbstbestimmt? Kann es ein solches Leben gemäß den realen (sozialen, ökonomischen etc.) Bedingungen überhaupt geben?

In psychologischen Ratgebern findet man meist verlockend einfache Antworten zu diesem Thema. Doch in Anbetracht der vielfältigen Perspektiven auf die unzähligen Möglichkeiten des Lebens erzeugen sie entweder eine kurzweilige Illusion von Gewissheit oder aber sie fordern vom Menschen etwas ein, dem er gar nicht gewachsen ist – man denke dabei an den weitverbreiteten Anspruch der Selbstoptimierung von Körper und Geist.

Doch spätestens, wenn eine Krise das Leben erschüttert – eine Krankheit, ein Verlust, ein traumatisches Ereignis –, entstehen tiefgreifende Zweifel, die diesen illusionären Boden brüchig werden, ja vielleicht sogar einbrechen lassen. In solchen Momenten offenbart sich, wie vielschichtig die Frage nach dem richtigen Leben ist und wie differenziert die Antworten ausfallen können – Antworten, die oft noch am Anfang eines Entwicklungsprozesses stehen. Eine Entwicklung, die parallel zum individuellen Wachstum der fragenden Person verläuft und die durch neue Erfahrungen, Wissenszuwachs, bewusstgemachte Phantasien, Wünsche und Gefühle sowie durch zwischenmenschliche Begegnungen in positiver Weise angeregt werden kann.

Einen solchen Möglichkeits- bzw. Übergangsraum für Wachstum bietet die Psychotherapie, indem sie einen Ort bereitstellt, der einerseits Halt und Orientierung bietet und der andererseits – durch die aufmerksame und zugewandte Begleitung eines anderen – ein mutiges und freies Ergründen des noch Unbekannten ermöglicht. In dieser Hinsicht kann der therapeutische Prozess sogar selbst zu einem wesentlichen Teil der Antwort nach dem richtigen Leben werden – sofern dieses vielleicht schon als individueller Entwurf existiert und nur noch auf eine Konturierung und nachfolgende Erprobung in der Welt wartet. So gesehen funktioniert die Psychotherapie wie ein Wegweiser vom Unbekannten zum eigenen Entwurf und von dort ins eigentliche Leben.